Mit Blick auf den Kalender kann ich es kaum fassen, dass seit meiner Ankunft in Rättvik nur zwei Monate vergangen sind. Wenn ich mir den Tag in Erinnerung rufe, als ich das Haus der Stille zum ersten Mal betrat, kommt es mir vor, als läge dieser Tag in ferner Vergangenheit. Es fühlt sich tatsächlich so an, als lebte ich seit Jahren als Teil dieser kleinen ökumenischen Gemeinschaft auf dem Berg. Berget – der Berg - macht etwas mit mir, das paradox klingt, wenn ich versuche es zu beschreiben. Es ist als würden die Gegensätze sich hier aufheben. Wie kann man das Gefühl von Beschleunigung haben, wenn sich gleichzeitig alles verlangsamt? Wie kann man meinen, die ganze Welt zu umrunden, wenn man sich kaum vom Ort weg bewegt?
Wohnen im Haus der Stille
Ich erinnere mich: Tystnad - Silence steht in großen Buchstaben neben dem Eingangstor, das mir wie ein Durchgang in eine andere Welt wird, in der meine Sinne mit neuer Schärfe funktionieren. Schon beim Durchqueren des Vorgartens wirkt das Plätschern des nie versiegenden Springbrunnens mit einer Intensität auf mich, dass ich alles mit gesteigerter Aufmerksamkeit wahrnehme. Meine Mentorin Kristina empfängt mich herzlich, führt mich durchs Haus und zeigt mir das Zimmer, das für drei Monate mein Zuhause sein wird. Alle Zimmer sind nach Heiligen benannt. Ich wohne im Zimmer des Heiligen Gregor. Durch mein Zimmerfenster kann ich hinter den Gemüsegarten das Ufer des Siljan erkennen, dem siebtgrößten See Schwedens.
Die "schwedische Schweiz"
Rättvik liegt mitten in der Region Darlana, die die Schweden wegen der vielen Berge stolz als "schwedische Schweiz" bezeichnen. Berget ist umgeben von Natur.
Am ersten Abend mache ich noch einen Spaziergang durch den Wald bis zum Seeufer hinunter, wo ich einen der schönsten Sonnenuntergänge erlebe, die ich je gesehen habe.
Wenn die Stille Lebendigkeit schafft
Was es bedeuten wird, in den ersten drei Tagen an einem Schweige-Retreat teilzunehmen, kann ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht begreifen. Wäre es nicht besser, wenn ich in den ersten Tagen viele Fragen würde stellen können? Im Nachhinein weiß ich, dass dieses Ritual einer Initiation gleichkommt, die den Geist auf das Leben hier einstimmt.
Die Stille half mir zu begreifen, dass ich wirklich hier war; sie schuf mir Raum und Zeit, die ich damit füllen konnte, alles in mich aufzusaugen, ohne in irgendeiner Bringschuld zu stehen, ohne irgendetwas davon anderen begreiflich machen zu müssen. Die Gewissheit zu haben, weder Fragen stellen zu müssen noch irgendetwas gefragt zu werden, verschaffte mir in dieser neuen Umgebung die Möglichkeit zu einer so friedvollen Ankunft, dass sich direkt zu Anfang ein Gefühl von Seligkeit und Frieden in mir ausbreiten konnte.
Ich muss gar nichts, dachte ich, außer da zu sein, außer einzuatmen und auszuatmen. Und das tat ich, ganz bewusst, gar nicht unbedingt immer in Abgeschiedenheit, sondern auch abends im brasrummet, wo sich alle Gäste und Gemeindemitglieder abends zum Tee versammeln. Wir sitzen gemeinsam vor dem brennenden Feuer im Kamin, und obwohl niemand spricht, ist mir als sei der Raum von mehr Lebendigkeit erfüllt als jede Kneipe.
Freiwilligendienst in Berget
Es stimmt: I stillheten blir du stark - In der Stille wirst du stark. Und gestärkt durch diese dreitägige Erfahrung konnte ich mich nun mit allen Kräften beteiligen und meinen Dienst in Berget beginnen. Die Gemeinschaft bietet Gästen die Möglichkeit hier unterzukommen und solch ein Retreat zu erleben. Dazu gehören auch die Teilnahme am täglich stattfindenden Stundengebet in der hauseigenen Kapelle und an der Eucharistiefeier am Morgen. An den St. Davidsgården schließt sich der Meditationsgården an, in dem ebenfalls regelmäßige Retreats mit unterschiedlichen Themen stattfinden.
Alles dreht sich um Achtsamkeit und das Ausbalancieren von Körper und Geist. Die Volunteers helfen in der Küche, beim Kochen, beim Abwaschen des Geschirrs und sonstigen Dingen, die im Alltag anfallen. Ich spüre deutlich, wie sich meine Fähigkeit zur Präsenz im Hier und Jetzt gesteigert hat. Ich bin hier und bin mir zu jedem Zeitpunkt meiner selbst bewusst. Meine Angst vor Gedankenfreiheit verkehrt sich in eine ungeahnte Klarheit.
Ich erkenne, wie ich im Leerwerden zu mir selbst komme, dass all meine Bestrebungen nach Selbsterkenntnis sich erfüllen, wenn ich auf das schaue, was gerade da ist. Berget hat mich gelehrt im Heute zu leben, das Gestern als vergangen zu akzeptieren und mich nicht um das Morgen zu sorgen, sondern es vorfreudig zu erwarten.