* diese Aussage kann Spuren von Ironie enthalten.
Der siebte Januar war der Beginn des letzten und längsten Abschnitts meiner Reise und führte mich 1306 Kilometer nach Nordosten, nach Riga. Die Erwartungen waren hoch - Meer, Sonne, Schnee, eine wunderbare Stadtsilhouette…
Gleich zu Beginn, als mir die verschiedensten Arbeitstellen vorgestellt wurden, merkte ich, dass meine Erwartungen sich ganz anders erfüllen. Während viele europäische Städte auf Tourismus ausgelegt sind, ist Riga einfach authentisch.
Riga ist nicht gleich Schweden
Außerhalb des Stadtzentrums ist alles weitesgehend unrenoviert. Während in Schweden irgendwie alle Häuser relativ gleich groß, überwiegend rot angepinselt und in einen ähnlichem Zustand sind, fallen Rigas Häuser schon durch ihre vielen Ungleichförmigkeiten auf. Was man gerade zum Reparieren findet, wird benutzt. Fenster sind Fenster, egal welche Farbe, Form oder welches Material sie haben. Und auch innen sieht es meist viel altmodischer aus, als ich es von zu Hause gewohnt bin. Allerdings finde ich, dass diese unperfekte Art Riga wirklich authentisch macht.
Die Menschen, denen ich hier begegne, sind dagegen nicht viel anders als woanders auch. Meine Mitarbeiter sind freundlich und aufgeschlossen und freuen sich über jeden meiner Versuche, ein bisschen Lettisch zu sprechen. Schwedisch war ungemein einfacher!
Kulinarische Feststellungen
Ich liebe es, zu meckern und zu pauschalisieren. Ja, beides sind keine wirklich tollen Eigenschaften, aber sie machen Spaß. Das, worüber ich mich in Schweden lustig gemacht habe, vermisse ich hier sehr. Im Heimatland von Ikea war ich verwöhnt von Salzkaramell, Filmjölk und fluffigen Zimt- und Kardamomschnecken. Diese kulinarischen Höhepunkte werden in Lettland durch ohne-Salzkaramell, nicht existierendem Joghurt (hier gibts nur Skyr oder Krejums mit 20% Fett) und Zimtschnecken aus Blätterteig ersetzt.
Dafür wurde ich sofort mit einer der Süßigkeitenspezialitäten Lettlands bekannt gemacht: Karums. Karums ist ein Frischkäsesnack in allen möglichen Geschmacksvarianten. Ein Quarkerzeugnis mit aromahaltiger Fettglasur. Wie mal eine Touristenführerin in ähnlichem Kontext erwähnte: "Entweder man liebt es oder man hat gar keine Meinung dazu". Karums als Snack zu bezeichnen ist eine grobe Fehleinschätzung, das kleine Ding sättigt nämlich sofort und gnadenlos.
Und eine zweite Sache durfte ich betreffend der Essgewohnheiten von diesem baltischen Staat lernen: Letten lieben Schwarzbrot bedingungslos, egal ob als Limonade (kein Witz, Kvas heißt das Gebräu), als Joghurtgeschmacksrichtung (ebenfalls die ganze Wahrheit) oder frittiert und knoblauchiert zum Snacken im Kino, beim Eishockey oder einfach zwischendurch. Es gibt keinen Aggregatszustand, den Schwarzbrot hier nicht einnehmen kann.
Perle des Baltikums
Mir wurde vor meiner Abreise viel von Riga als "geheime Perle des Baltikums" erzählt. Bilder dieser Stadt in Katalogen waren immer extrem bunt und strotzten vor Farbenpracht. Ganz so konnte ich das zu meiner Ankunft nicht erfahren. Nachdem ich bei der Landung erst zwanzig Meter über dem Boden der Wolkenmasse entkam, zog sich das dunkelgraue Wetter durch die nächsten Wochen.
Die Hauptstadt Lettlands hat viele schöne Gebäude im Jugendstil. Aber es ist auch irgendwie eine Stadt, die noch nicht ganz rausgefunden hat, wie sie ihr Potenzial ausschöpfen könnte. Der sozialistische Pragmatismus ist als Überbleibsel der Sowjetzeit nicht nur unterschwellig spürbar - die Straßen sind Flickenteppiche, Balkone großflächig unternetzt statt renoviert, überall sind Baustellen, die vor zwanzig Jahren begonnen und vor zehn Jahren nicht beendet worden sind. Zur Architektur der Gebäude gehört, dass mindestens drei offensichtliche Baufehler vorhanden sind und ein Teil des Gebäudes nach Abschluss der Arbeiten noch unfertig bleibt. Zusätzlich werden vorsorglich alle Häuser in einem Farbton von graubraun bis schwarz gestrichen, damit man trotz des vielen Drecks, der sich durch fehlende Straßensäuberungen sofort an den Häuserfassaden niederlässt, für die nächsten 200 Jahre nicht neu streichen muss.
Diese phänotypische Erscheinung macht Riga zu einer Stadt der Extreme. Bei Regen und im Winter ist es nahezu unerträglich. Schiebt sich dann aber tagsüber die Sonne plötzlich durch die Wolken, kann man ihre Schönheit quasi fühlen. Ich freue mich extrem auf die langen Abende im Frühjahr, die Sonne, blühende Bäume und all die jungen Menschen, die Riga so erlebenswert machen.
Neue Kontakte in einem neuen Land
Tatsächlich ist in den bald schon wieder zwei Monaten viel zu viel passiert, als dass es Platz in diesem kurzen Text finden würde.
Erstens fürchte ich mich nicht mehr vor der Zeit allein hier. Ich habe mit die tollsten Personen meines gesamten "Nach-Abitur-Jahres" kennengelernt.
Lüllien R. (Name von der Redaktion geändert) arbeitet mit mir zusammen im Familienzentrum Paaudzes, in dem wir auf Jugendliche aufpassen und als A(ni)mateure unterwegs sind. Wir planen Thementage wie unsere Beachparty oder die Valentinstagsfete, tanzen Kiwotänze, spielen Kiwospiele (liebe Kiwofreunde, wusstet ihr, dass 15-18-Jährige am Messer-Gabel-Löffel-Spiel und der kleinen Haselnuss scheitern können?) und werten die neuesten Liebschaften der Kinder mit ihnen aus. Weil selbst den Mitarbeiterinnen des Jugendzentrums unsere Arbeit so gefällt, haben wir bereits wunderbar russisch-lettischen Schmuck zum Dank überreicht bekommen.
Riga - wie wunderbar
Riga überzeugt meiner Meinung nach in den Details. Straßen sind selten beampelt und viel häufiger untertunnelt. Dort Untertage finden immer irgendwelche "Tunnelkonzerte" von "Tunnelkünstlern" statt und es gibt unzählige liebevoll eingerichtete Cafés mit leckeren Keksen, Kuchen und Smoothies.
Außerdem setzt man sich in Riga in den Bus, fährt zwanzig Minuten und steigt plötzlich an der wunderschönen Ostsee aus. Im Stadtzentrum gibt es denkmalschutzwürdige Markthallen, ähnlich denen in Stockholm, mit dem Unterschied, dass man in Stockholm darin das Dreifache des Normalpreises, in Riga lediglich ein Drittel, zahlt. Es gibt unzählige kleine Bars in wundervollem Ambiente zu unschlagbaren Preisen und je länger man in dieser Stadt unterwegs ist, desto mehr versteckte Kleinode findet man.
Weiterführend konnte ich durch meinen von Lüllien R. veranlassten Beitritt einer lettischen Beachvolleyballtruppe Kontakte zu Letten knüpfen. Wir besuchten eine fremde Kleinstadt mit idyllischem Schloss und verlassener Konzertbühne, spielten spontan zweieinhalb Stunden Lasertag mit Profis und bereiten uns systematisch auf unsere Sommerfigur vor.
Ein Stück Abschied
Nächste Woche verlassen uns bereits, zum Leidwesen aller, Anna-Maria und Leonard. Das ist sehr sehr schade, weil ich mit Anni jemanden verliere, die ihr Ei genau so flüssig liebt wie ich und ohne sie unsere Rock-Café-Besuche nur noch halb so lustig sind, und weil Leo, der nicht anthroposophische Anthroposoph, es immer noch nicht geschafft hat, mit mir zu zeichnen.
Allerdings ist dafür vielleicht ja noch nächste Woche Zeit, wenn Emmi, Alex, Leo und ich nach Finnland aufbrechen.
Und somit habt ihrs geschafft. Dieser Text hat leider keine Bildzeitungslänge, das tut mir ein bisschen Leid. Wenn ihr bis hierhin gekommen seid, freue ich mich wirklich ganz doll und dann könnt ihr mir das gern auch persönlich mitteilen.
Ich sende viele Grüße in meine Heimat und an alle die, die zwar nicht dort, aber trotzdem meine Heimat sind. Ich freu mich ganz doll auf euch, bis bald.
Herzlichst, Hannah.