Meine Augen schweifen unruhig im Raum, alles hier ist mir wenig vertraut. Ich blicke auf die Uhr 12.58, dann sehe ich die rote Lampe vor mir, nicht zu vergessen das Mikrofon. Ich bin in einem Radiostudio. In wenigen Minuten werde ich live auf Sendung sein. Mein Herz rast, hoffentlich verlässt mich meine Stimme nicht!
Der Countdown läuft: 3,2,1, die rote Lampe leuchtet auf. „Guten Tag liebe Hörerinnen und Hörer von Radio Maria, heute haben wir einen Gast bei uns im Studio, Anna Lena Drees aus Deutschland“. Ich denke, das bin wohl ich. „Hallo“, mein erstes Wort im lettischen Radio. Für Aufregung bleibt jetzt keine Zeit mehr, jetzt bin ich dran. Heute geht es erst einmal um mich, meine Person, mein Leben, mein Werdegang.
Mein Leben in Riga
Und mein Leben hat mich nach Riga verschlagen, ins Dominikanerinnenkloster von Bethanien. Zusammen mit den vier Schwestern und ein paar anderen Gästen habe ich drei Monate dort gelebt: Gegessen, gebetet, gesungen und vieles mehr. Hinter mir gelassen habe ich mein Studium an der KatHo Paderborn, drei Semester Religionspädagogik liegen hinter mir. All das darf ich dem Moderator Petris erzählen und schon bald vergesse ich die vielen Zuhörerinnen und Zuhörer da draußen. Es wird ein normales, nettes Gespräch: Feuerprobe bestanden!
Die nächsten Ausgaben durfte ich dann inhaltlich gestalten. Gar nicht so einfach, was interessiert die Menschen in Lettland wohl und ein bisschen Ahnung sollte ich von der Materie auch haben. Schließlich entschied ich mich für Sendungen über die Kirche in Deutschland, Benedikt XVI. und Oasis, ein Jugendprojekt in Lettland, an dem ich teilgenommen habe. Eine Frage begleitete mich, wie kommt mein Inhalt wohl an? Denn es ist immer auch eine Sendung ins Ungewisse, da man die Hörerinnen und Hörer ja nicht zu Gesicht bekommt.
„Meine Mutter hat dich im Radio gehört, sie fand es klasse“ – über eine solche Reaktion von Schwester Tereze habe ich mich daher doppelt gefreut. Auch der Moderator hat mich immer wieder positiv motiviert. „Das war gar nicht so schlecht fürs erste Mal“, „interessantes Thema“ oder „Radiotalent“ – solchen positiven Zuspruch von Peteris konnte ich gut gebrauchen. Ich rechne ihm seine Reaktionen hoch an, denn am Anfang klang ich doch sehr schüchtern und zurückhaltend.
Von Suppenküche bis Jugendcamp
Aber natürlich konnte ich nicht nur Radio machen. Neben meiner Medienarbeit war ich besonders gern in der Suppenküche aktiv. Eine Frau ohne Zähne, ein Mann mit Kopfverletzungen, ein weiterer mit all seinem Hab und Gut in einer Plastiktüte. All diese Menschen sind Gäste bei den Missionarinnen der Nächstenliebe in Riga. Das lettische Sozialsystem ist nicht mit dem in Deutschland vergleichbar. Ein warmes Mittagessen ist längst nicht selbstverständlich. Die Freude und Dankbarkeit der Hilfesuchenden war wohl auch deshalb mit Händen zu greifen. „Nice to see you!“ oder „God bless you!“ waren Reaktionen, die mich beglückten. Evangelium zur Tat werde lassen – selten zuvor konnte ich so ein Schlagwort mit Leben füllen.
Orts- und Zeitwechsel: Sonntag, in einer katholischen Kirche in einem Vorort von Riga. Kläglicher Gesang, eine verstimmte Orgel, ein Priester wie aus der Zeit gefallen. Die Situation der lettischen katholischen Pfarrgemeinden lässt mich nachdenklich zurück. Die Kirchen, denn ähnliches kann man auch über die anderen Konfessionen sagen, sind in Lettland sehr konservativ. Äußerlich kann man das z.B. an der selbstverständlichen Praxis der Mundkommunion oder den Priestern in Soutanen beobachten. Die Kirche wirkt auf mich, als sei sie vor dem 2. Vatikanischen Konzil stehengeblieben. Ok, ich übertreibe, zugegeben. Aber der Kontrast zu meiner Kirchenerfahrung in Deutschland ist eben sehr groß.
Anders ist die Situation im Dominikanerinnenkloster. Die Schwestern gehören zur deutschen Provinz und sind daher sehr viel liberaler und weltoffener. Gerade deshalb bringen viele ihre Kinder zur dortigen Sonntagsschule um sie auf die Sakramente vorbereiten zu lassen. Vor der Messe gibt es religiöse Bildung, aber auch gruppenpädagogische Spiele, Spaß und Kreativität. Höhepunkt ist aber die Hl. Messe, in die sich die Kinder entweder als Messdiener oder als Vorbeter einbringen können. „Messe dienen ist für mich das Schönste!“ – sagte mir z.B. ein Junge, „Da bin ich Jesus ganz nah!“ ein Mädchen. Messe dienen ist natürlich nur was für Jungs - Dominikanerinnen hin oder her.
Die Feier der Kar- und Ostertage, mein Schulpraktikum in Tartu, der Sprachunterricht für Seniorinnen und Senioren, das schon angesprochene Jugendcamp, es gäbe noch viel zu erzählen. In diesem Projekt kann wirklich jeder und jede seine persönlichen Talente und Vorlieben einbringen. Mit welchen hättest du Lust nach Riga zu gehen? Jede Menge Möglichkeiten warten auf dich.
Und doch will ich zum Schluss noch über ein Projekt berichten, was mich nachhaltig beeindruckt hat. Warum? Weil es mir gezeigt hat, dass es sich lohnt seine Ängste und Vorurteile zu überwinden. Worum geht´s? Eltern mit behinderten Kindern einen Tag im Monat zu entlasten. Wie? Indem wir mit den Kindern gespielt, sie musiktherapeutisch gefördert und in ihrer Einzigartigkeit wahrgenommen haben. Der Kontakt mit den Kindern hat mir gezeigt, wie wertvoll das Leben jedes und jeder Einzelnen ist. Ich gebe zu, ein kleiner Schubs meines Mentors war nötig um da mitzumachen.
Aber darum geht es beim Praktikum im Norden ja auch: Grenzen überwinden und neue Horizonte eröffnen!