Marcel Fischer, unser Praktikant in Uppsala, hat in den vergangenen Monaten unsere moderne und in Schweden sehr ausgeprägte Gesellschaft beobachten können und auch die Schattenseiten der Säkularisierung kennengelernt. Marcel reflektiert über die Stimmung, die er in Schweden erlebt und welche Rolle er sich von der Kirche wünschen würde:
Vor ein paar Monaten starb der (unter Jugendlichen) weit bekannte Musiker Kazim Akboga, dessen größter Hit den Titel ”Ist mir egal” trägt. In diesem Lied macht der Musiker Werbung für einen Lebensstil der „Toleranz“. Darunter versteht er einen Lebensstil, der alles erträgt und duldet, solange man nur den Anderen ebenfalls duldet. Das Ganze nennt sich heute „offene Kultur“ und hat zum Stil eine freie und ungezwungene Gesellschaft aufzubauen, in der jeder so sein kann, wie er es möchte. Was für ein Traum… keine Diskriminierung, keine Feindschaft, kein Hass - das Einzige, was bleibt, ist Toleranz und Freiheit. Dies ist das Mantra, auf dem auch die schwedische Kultur aufbaut: Toleranz für Alles und Jeden!
Doch ist es wirklich so? Schaut man richtig hin, ist es keine Toleranz, sondern kalte, ignorante Gleichgültigkeit gegenüber Allem und Jedem, der nicht Ich ist. Solange man mich in Frieden lässt, interessiert es mich nicht. Egal, wie man aussieht, sich kleidet, denkt oder fühlt. Doch dabei gehen nicht nur die Mitmenschen unter, sondern auch Mitgefühl und Barmherzigkeit. Denn auch der Bettler am Straßenrand und die Verzweifelten um uns herum verschwinden. Sie interessieren den Menschen nicht mehr. Denn Er ist nicht Ich. Es gibt keine Identität mehr, außer dem ich. Nichts, was die Menschen vereint, ja, es wird sogar verneint, dass es nötig wäre, sich zusammenzuschließen. So wird die Sozialität des Menschen radikal mit Individualismus bekämpft. Am Ende bleibt nichts als Einsamkeit und Verschlossenheit.
„Diktatur des Relativismus“
Doch bleibt doch die Freiheit, oder nicht? Ist es denn Freiheit? Was ist mit denen, die sich diesem seelisch tötenden Individualismus entgegensetzen? Die Reaktion, falls diese den überhaupt kommt, wird gnadenlos ignoriert oder bekämpft. Denn sie ist nicht tolerant genug. Diese Haltung der totalitären Toleranz nannte Benedikt XVI „die Diktatur des Relativismus“. Alles wird geduldet, solange nur alle mitmachen in den „Trott der absoluten Gleichgültigkeit“. Denen, die die Gefahren dieser Haltung sehen, wird jede Toleranz verwehrt und sie werden totalitär ausgegrenzt. Wie so oft, existiert auch hier keine Gnade.
Ein weiterer Faktor, der im Laufe der Zeit verloren gegangen ist in dieser „Inkarnation der Modernität“, ist die Wahrheit. Wahrheit, das vielleicht meistgehasste Wort unserer Zeit. Natürlich wird es von der Wissenschaft maßlos überhöht und vom Rest ignoriert. Aber ist es nicht so, dass alles, was an Wert verlieren soll, nur überhöht werden muss. Denn, wenn man in Höhen nicht steigen kann, um das Ziel zu erreichen, ignoriert man das Ziel und sucht sich ein anderes. So passiert es auch mit der Wahrheit heutzutage. Sie gilt als unerreichbar und wird abserviert. Jeder, der sie sucht, wird ausgegrenzt. Denn Wahrheit zwingt zu etwas, dass einem relativistischen Kollektiv tief ins Mark schneidet: Entscheidung. Sich für eine Seite zu entscheiden und bei dieser Entscheidung zu bleiben, ist im Relativismus (oder soll ich lieber Opportunismus sagen?) nicht nötig. Man kann beliebig die Seiten wechseln, weil ja sowieso alles richtig ist. Und wenn alles richtig ist, ist alles nichtig. Aber das bleibt unbedacht oder ignoriert.
Jede Form von Wahr oder Falsch wird bekämpft und aussortiert. So wird kurzfristig Frieden geschaffen. Aber langzeitig ist dieser Frieden eine Farce, die gravierende moralische Folgen haben wird. Denn, wenn es kein Wahr und Falsch mehr gibt, ist pragmatisch rationalistische Ethik alles, was bleibt. Was ein Horror, wenn plötzlich die Masse (und deren Schwankungen) entscheidet, was gut oder falsch ist. Plötzlich öffnen sich gravierende Folgen, bei denen alles legitimiert werden kann. Da ist Abtreibung nur der erste Albtraum, der langsam wirklich wird. Der letzte Maßstab, der bleibt, ist der persönliche Vorteil und der Egoismus: damit man selbst nicht bestohlen wird, stiehlt man lieber auch nicht. Doch denkt man weiter, entsteht ein Albtraum, der von den Konventionen gebannt oder entfesselt wird (Stichwort „Würde des Menschen“ oder „Humanität“).
Die Kirche in der modernen Gesellschaft
Was ist mit der Kirche? Was sagt sie dazu? Die Kirche steht gegen all diese Dinge. Die Kirche hält fest an der Existenz von objektiver Wahrheit, auch in Fragen der Moral. Die Kirche beugt sich nicht dem Relativismus und der totalitären Diktatur. Es gibt nur einen Weg, eine Wahrheit und nur einen Weg zum Leben: der auferstandene Jesus Christus. Auch wenn es Teile der Kirche gibt, die auch dieses Bekenntnis relativieren und so der Farce der Moderne glauben.
Sie stellt sich dagegen und kann sich seit Jahrhunderten behaupten. Kann das auch die schwedische Kirche? Denn um eine Bastion zu sein, muss man gesehen und gehört werden. Ohne Widerstand zu leisten, ist man kein Widerstandskämpfer. Das Evangelium wird nicht in Köpfen verkündet, sondern auf (virtuellen oder realen) Straßen. Dafür muss man in irgendeiner Form das Haus verlassen.
Ja, die katholische Kirche in Schweden (oder das, was ich davon gesehen habe!) ist eine Kirche der Freude und des Glaubens. Sie ist eine Gemeinschaft der Hoffnung und der Überzeugung. Im Herzen der Menschen hier brennt tatsächlich der Geist Gottes in einer sehr bewundernswerten Art. Das alles ist wahr. Die Menschen hier bezeugen den Glauben in der Kirche auf eine unglaubliche Art. Und hier haben wir schon das Problem: Sie tun es IN der Kirche. Aber wenn ich die Straße betrete, sehe ich nichts davon. Es wird hervorragende Arbeit geleistet, die aber nur innerhalb des katholischen „Kubus“ wirkt. Der Minoritätscharakter der Kirche hat hier zu einer Entfremdung geführt. Die Kirche ist eine ganz eigene Welt, die zum Leben erweckt wird, sobald man die Kirche betritt. Verlässt man sie aber wieder, verliert das alles an Glanz. Das Feuer breitet sich nicht aus. Natürlich gibt es Konvertiten, die aber meist von anderen Konfessionen übertreten. Aber diese Variante der Mission kann auf Dauer nicht wirken, da das Gros der Menschen in Schweden das Wort Kirche nur aus dem Fremdwörterlexikon kennt.
Wie sollten sie auch? Die lutherische Kirche hat völlig an Bedeutung verloren, da sie sich so sehr dem Zeitgeist angepasst hat, dass sie sich in keinster Weise von der Lebensart der restlichen Schweden unterscheidet. Sie sind wie alle Anderen. Warum sollte man sich also für diese Gemeinschaft als Atheist interessieren? Da Atheismus, meist unreflektiert, die Hauptdenkart ist, muss die Kirche gerade hier ansetzen. Doch ich sehe es nicht.
Die Kirche in Schweden scheint sich hinter ihren Türen zu verschließen. Das ist erstmal normal, da man sich angegriffen fühlt, was auch tatsächlich passiert, sich also nur verteidigen will. Doch Angst ist nur im ersten Moment verständlich. Angst gehört nicht zu dem Verhalten eines Christen! Das hat der Heilige Vater bereits oft bekundet. Auch das Evangelium spricht von Aufbruch und dahin zu gehen, wo das Licht Christi noch nicht scheint. Das heißt angegriffen, ausgelacht, belächelt, verhöhnt und vielleicht sogar tätig angegriffen zu werden. Der Herr hat nirgendwo behauptet, dass es angenehm ist, Christ zu sein. Doch warum sollte man es tun? Um des Schmerzens Willen? Nein, um des Herrn Willen.
Dem Mut und der Hoffnung eine Tür öffnen
Ich hatte es schon in meinem letzten Beitrag gesagt: Die Glaube, die Hoffnung und die Liebe lebt, weil Christus lebt. Sie hat gesiegt, weil Christus gesiegt hat. Der endgültige Tod, und damit jeder Grund zum radikalen Festhalten an meinem „Ich“ und an meiner Selbstbezogenheit, sind bezwungen. Der Tod ist tot. Diese Hoffnung ist wahrhaftig. Sie ist real. Wenn dies wahr ist und wir erfüllt sind von die Hoffnung, kann kein Schmerz dieser Welt uns entmutigen: „Er ist vom Tod erweckt worden. Er hat seinen Platz an Gottes rechter Seite. Dort tritt er für uns ein. Kann uns noch irgendetwas von Christus und seiner Liebe trennen?“ (Römer 8,34-35)
Diesen Mut, der sich draußen auf der Straße zeigt, vermisse ich hier. Ich sehe eine große Hoffnung, eine große Kraft. Doch sie ist verschlossen in einer eigenen Dimension, deren Tür verschlossen wird, wenn man sie verlässt. Doch die Menschen hier werden nicht zu uns kommen. Dafür sind die Wunden zu tief. Darum müssen wir noch wagemutiger, noch liebender, noch bekennender zu ihnen gehen und das Evangelium Gottes verkünden. Was für ein Feuer Gottes in Schweden brennen könnte, wenn sie doch nur die Angst niederringen würden und hinauschreiten würden. Christus ist mit ihnen. Sein Licht leuchtet ihnen. Die Peripherie ist hier nicht nur in den Ghettos. In Schweden liegt diese Peripherie der Hoffnungslosigkeit direkt vor der Kirchentür. In jedem Menschen. Wer soll dieser Diktatur des Relativismus und des Konsumismus entgegentreten, wenn nicht die Kirche? Wenn wir, wenn sie nicht kämpfen, tut es Keiner. Wenn ich nicht verkünde, tut es Keiner. Wenn du nicht verkündest, wer soll es dann tun? Wir sind Kirche? Dann lasst uns gemeinsam hinausgehen und es bezeugen! Für Gott, für Christus, für die Hoffnung und das Leben! Nicht Morgen, nicht nächstes Jahr. Jetzt, heute… in jedem Moment.
Ist uns egal? Nein, uns ist der Nächste nicht egal. Keiner außer uns? Nein, alle außer uns. Damit nicht mehr wir leben, sondern Christus in uns.
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